Wer vor 50 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ein Studium der Romanistik aufnahm, begegnete in der Geschichte des Fachs, wenigstens im deutschen Sprachgebiet, keinem Namen einer Frau außer dem der unvergessenen Elise Richter. Ilse Nolting-Hauff gehörte zu den ersten romanistischen Lehrstuhlinhaberinnen in Deutschland. Geboren drei Monate nach Hitlers Machtergreifung, konnte sie erst nach Kriegsende ein Gymnasium besuchen, was sie nicht hinderte, im Alter von nur 23 Jahren, nach einem Studium der Englischen und Romanischen Philologie in Hamburg, Heidelberg und Aix-en-Provence, mit einer anspruchsvollen Dissertation über den altprovenzalischen Flamenca-Roman zu promovieren. Ihr Wunsch, sich zu habilitieren, stieß gleichwohl bei ihrem Doktorvater zunächst auf Unverständnis, dann aber holte sie Harri Meier, der zu ihren Heidelberger Lehrern gehörte, 1958 als Assistentin an das Bonner Romanische Seminar, nachdem sie zuvor zwei Jahre als Lektorin für Deutsch an der Universität Dijon akademische Unterrichtserfahrung gesammelt hatte. Auf die Bonner Habilitation im Dezember 1965 folgte rasch die Berufung an die neugegründete Ruhr-Universität Bochum. Ihr blieb sie trotz eines zwischenzeitlichen Rufs an die Universität Kiel treu, bis sie zum Sommer 1975 auf den Münchner Lehrstuhl wechselte, den sie 22 Jahre bis zu ihrem Tode innehatte, in den Studienjahren 1993-1995 als Dekanin der Philosophischen Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften I.
Die deutsche Romanistik erleidet in Ilse Nolting-Hauff, nur wenige Monate nach dem Tod von Hans Robert Jauß, einen zweiten schweren Verlust. Ihre ersten Arbeiten fielen in die Zeit von Ernst Robert Curtius angestoßenen Wiederbelebungen der Mittelalterstudien. Allerdings gingen ihre Bestrebungen weniger in die Richtung einer überbordenden mediävistischen Gelehrsamkeit als in die einer neuen Lesbarkeit der großen Texte des französischen und provenzalischen hohen und späten Mittelalters, der Lais der Marie de France, der Versromane Chrestiens de Troyer, des Flamenca-Romans, des der mittelalterlichen Vagantenlyrik nachempfundenen, selbstironischen Testament François Villons. Hier ist neben ihrer Untersuchung über die »liebeskasuistische« Dialektik des höfischen Romans (1959) die kongeniale Prosaübersetzung des Chrestienschen Yvain (1962) zu rühmen, die sich ihrer Vorlage bis in die schwindelerregenden Tempussprünge des altfranzösischen Erzählstils anschmiegt.
Obwohl sie die gesellschaftliche und ökologische Entwicklung der BRD schon früh kritisch verfolgte, hat sie in den sechziger und siebziger Jahren allen Versuchungen einer ideologischen Instrumentalisierung ihrer Wissenschaft widerstanden. Zu einer Zeit, wo andere in Quevedos Sueños eine Generalabrechnung mit der niedergehenden spanischen Monarchie sehen wollten, hat sie in ihrer Studie Vision, Satire und Pointe in Quevedos Sueños (1968, spanisch 1974) den absoluten Vorrang der grotesken Verfremdungstechnik des Barocksatirikers vor der vielfach nur topischen Zeitkritik herausgearbeitet. Der aus einer Ringvorlesung zu dem damals vieldiskutierten Realismusbegriff hervorgegangene Beitrag zu Defoes Moll Flanders (1970) führt die vermeintliche Wirklichkeitsnähe des Begründers des klassischen englischen Romans auf einen durch die Umfunktionierung von Gattungsstereotypen erzeugten Effekt zurück.
Ihrer strikt auf die literarischen Textqualitäten ausgerichteten Arbeitsweise kam die Wiederentdeckung der russischen Formalisten entgegen. Die in zwei Folgen in der Zeitschrift Poetica abgedruckte fast hundertseitige Abhandlung »Märchen und Märchenroman« (1974), die einen separaten Nachdruck verdiente, überträgt die von Vladimir Propp an der »einfachen Form« des Märchens entwickelten Handlungsfunktionen und Verläufe auf die narrative Großform des hellenistischen Liebesromans und des mittelalterlichen Artusromans; der Aufsatz »Zur Psychoanalyse der Heldendichtung« (1978; französische Kurzfassung 1982) analysiert danach in einem zweiten Schritt am Beispiel des altfranzösischen Rolandslieds die psychologischen Gesetzmäßigkeiten, die die Transformation des geschichtlichen Ereignisses in die Sage und weiter in das Heldenepos steuern. Dieser gattungstypologische Ansatz erweist sich als außerordentlich fruchtbar; eine spätere Arbeit ordnet etwa noch die fantastische Novelle der Romantik, soweit sie nicht unmittelbar auf die dämonologische Volkssage zurückgreift, als eine Reaktualisierung des mittelalterlichen Mirakels ein (»Die fantastische Erzählung als Transformation religiöser Erzählgattungen [am Beispiel von Théophile Gautier, La Morte amoureuse]«, 1991). Der kurze Beitrag »Pikaresker Roman und menippeische Satire« (1987) erstellt schließlich, nun auf Michail Bachtin gestützt, ein komplexes Tableau der wechselseitigen Interaktionen zwischen den Vorformen des modernen Romans im Spanien des 16.Jahrhunderts.
Anlaß dieser letzten Betrachtung ist der Lazarillo de Tormes, ein in seiner gespiegelten Naivität und kalkulierten Vieldeutigkeit einzigartiges Werk, mit dem Ilse Nolting-Hauff sich mehrfach beschäftigt hat (vgl. noch »La Vida de Lazarillo de Tormes und die erasmische Satire«, 1983). Nicht nur hier hat die Literaturliebhaberin der Literaturwissenschaftlerin die Feder geführt. Die Suche nach den Spuren der lyrischen Prosa eines Rousseau, eines Chateaubriand und des frühen Proust in der Recherche du temps perdu (»Proust und die Tradition des Prosagedichts«, 1967), die späte Aufwertung des epischen Theaters Jean Giraudoux' (»Mythenrenaissance« und Episierung in Giraudoux' »La Guerre de Troie n'aura pas lieu«, 1983), die Entwirrung der »Abenteuer der Intertextualität« in Jorge Luis Borges' Erzählung El inmortal (»Die Irrfahrten Homers«, 1988) bezeugen eine ausgeprägte Vorliebe für subtile, beziehungsreiche Texte. Die eingelegten detaillierten Resümees sind immer wieder kleine geistreiche Kunstwerke.
Die plötzlich aufgetretene heimtückische Krankheit und der Tod haben die Ausführung gewichtiger Vorhaben verhindert, von denen ihre letztenVeröffentlichungen eine Vorstellung vermitteln. Eine zusammen mit dem Verfasser dieser Zeilen übernommene, seit langem so gut wie abgeschlossene kritische Edition des Sueños de la muerte von Quevedo sollte im Lichte der neuesten methodischen Einsichten noch einmal revidiert werden; die entsprechenden Überlegungen haben ihren Niederschlag in den von ihr publizierten Vorlagen des Bochumer Kolloquiums Textüberlieferung, Textedition, Textkommentar (1993), in ihren dort und auf der 9. Tagung der DGAVL (1993, gedruckt 1996) vorgetragenen Beobachtungen über Zensur und Selbstzensur im Siglo de Oro und in ihrer grundsätzlichen Rezension der allzu mechanistischen Ausgabe der Sueños von James O. Crosby (1996) gefunden. Ein ganz neues Feld hatte sie sich durch ihr Engagement beim Münchner Graduiertenkolleg »Geschlechterdifferenz und Literatur« eröffnet; was hier von ihr noch zu erwarten gewesen wäre, läßt ihr Beitrag zu dem von Ina Schabert und Barbara Schaff herausgegebenen Band Autorschaft (1994) erahnen.
Das langjährige Wirken der Verstorbenen an der Universität München wird von berufener Seite gewürdigt werden. Die Bochumer Kollegen, unter denen sie neun entscheidende Jahre lang wirkte, erinnern sich noch dankbar an die Gründerkollegin, die den gar nicht so viel jüngeren aufmüpfigen Studenten ohne Berührungsängste gegenüberstand, aber wissenschaftliche Qualitätsmaßstäbe ohne jede opportunistische Anwandlung verteidigte. Daß sie sich treu geblieben ist, war von Zeit zu Zeit aus München zu vernehmen, wo es bald eine Verbannung der Hispanistik in die Provinz abzuwenden, bald die Einstellung eines vom Ministerpräsidentenerlaß betroffenen hochbegabten jungen Wissenschaftlers zu erwirken und zuletzt die Vereinnahmung des Instituts für Italianistik durch ihr eigenes Institut zu verhindern galt.
Sie wird der Fachwelt durch den Scharfsinn und geschichtlichen Weitblick ihrer Schriften, ihren Kollegen durch ihre unbestechliche Verläßlichkeit und ihren Studenten durch ihr fürsorgliches Engagement gegenwärtig bleiben.
Karl Maurer, Bochum