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Nachruf auf Dr. habil. Viviane Mellinghoff-Bourgerie

 

Frau Dr. habil. Viviane Mellinghoff-Bourgerie ist am 23. Mai 2019 kurz vor Vollendung ihres 75. Lebensjahrs verstorben. Frau Mellinghoff war vom 01.04.1967 bis zu ihrer Pensionierung am 30.06.2009 am Romanischen Seminar als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich der französischen Literaturwissenschaft tätig. Viele Studierende werden sich noch an ihre anspruchsvollen, immer in französischer Sprache durchgeführten Einführungskurse erinnern, an ihre zahlreichen tiefschürfenden Lehrveranstaltungen zu den verschiedensten Themen der französischen Literatur seit der Epoche der Renaissance und die – speziell für Romanistikstudierende konzipierten – Lateinkurse, mit denen der seinerzeit erforderliche Nachweis von Kenntnissen der Sprache des ‚alten Rom’ auf erfreulich fachbezogene Weise erbracht werden konnte.

Frau Mellinghoff wurde am 1. Juli 1944 in Paris geboren, wenige Monate vor der Befreiung der Stadt von der deutschen Besatzung. In Paris besuchte sie das renommierte Lycée Jean Racine, damals ein ‚Mädchengymnasium’, an dem sie 1960, im Alter von nur 16 Jahren, das Baccalauréat erwarb, um dann an der Sorbonne ein anspruchsvolles Studium der Gräzistik, Latinistik und Französistik aufzunehmen, das sie 1966, ebenfalls sehr jung, mit nur 22 Jahren, abschloss. Ein Stipendium zur Erarbeitung eines Diplôme d’Études Supérieures. führte sie aus dem ‚katholischen Frankreich’ in ein eher ‚protestantisch geprägtes Deutschland’, wo sie heiratete und Mutter zweier Kinder – und viel später dann, auch Großmutter von fünf Enkelkindern, wurde.

Schon bald trat sie eine Stelle am Romanischen Seminar der Universität Münster an, von wo sie 1967 an die damals noch in ihrer Gründungsphase befindliche Ruhr-Universität ‚abgeworben’ wurde – in der berühmt-berüchtigten ‚Gummistiefelzeit’, weil die Universitätsangehörigen, darunter natürlich auch Frau Mellinghoff, das wegen allgegenwärtiger Bautätigkeit völlig verschlammte Gelände nur so betreten konnten. Trotz ihrer stets vorbildlich und umfassend wahrgenommenen dienstlichen Verpflichtungen konnte sie zwischen 1977 und 1988 an den Universitäten Bochum und Bonn ein Studium der katholischen Theologie durchführen. Dieses außerordentlich weite, doch inhaltlich sich wunderbar ergänzende Spektrum ihrer wissenschaftlichen Qualifikationen erlaubte es Frau Mellinghoff, hervorragende innovative literaturwissenschaftliche Leistungen zu erbringen, die wiederum in ihre stets anregende und eine große Leistungsbereitschaft auf Seiten der Studierenden voraussetzende Lehre einfloss. 1971 hat sie – noch im Anschluss an ihr Altphilologiestudium in Paris – an der Sorbonne den Doktorgrad erworben mit einer Arbeit über die komplexe, seinerzeit sehr kontrovers und grundsätzlich diskutierte Frage zum Einfluss des epikuräisch-profan geprägten Gedankenguts von Lukrez auf die religiösen Implizite in Vergils Aeneis (Les incertitudes de Virgile. Contributions épicuriennes à la théologie de l’Éneide, 1990). Das hier unter Beweis gestellte akribische Arbeiten am Text, das philologische, philosophisch-theologische und allgemein kulturwissenschaftliche Fragen mit modernen Methoden verbindet, sollte für alle weiteren Arbeiten von Frau Mellinghoff charakteristisch werden. Diese Arbeiten konzentrierten sich zwar – hierin ganz ihrem ursprünglichen französischen Universitätssystem folgend – im Wesentlichen in einem sehr hohen Spezialisierungsgrad auf die französische Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts (Renaissance und grand siècle). Sie stellen ihre Forschungen aber stets auch in weit ausgreifende zeitgenössische italienische, spanische, deutsche und neulateinische Kontexte sowie in die  –  anderen Orts nur allzu oft übersehenen – altphilologischen und theologisch-kirchengeschichtlichen Zusammenhänge, ihre Ursprünge und Wirkungen.

Ein ganz wesentliches Charakteristikum der Forschung und Lehre von Frau Mellinghoff ist es darüber hinaus, dass sie nicht nur die ‚weltliche’ Literatur – etwa die Essais von Montaigne, das Theater von Molière, Corneille und Racine oder die Romane von François Rabelais, Scudéry oder Madame Lafayette berücksichtigt hat. Ein intensives Interesse ihrerseits galt auch der sogenannten ‚spirituellen’ oder religiösen Literatur, die – trotz ihrer ungeheuren Fülle an Texten – lange Zeit aus dem neuphilologischen Kanon ausgeblendet war und höchstens in solch spezifischen Fällen wie dem eines Blaise Pascal Berücksichtigung fand. Frau Mellinghoff hat sich in diesem Feld mit dem eigentlichen ‚Gründungsvater’ dieser Form von Literatur in Frankreich um 1600, mit François de Sales, umfassend auseinandergesetzt. Ihre Untersuchung zu den Briefen des ‚Bischofs von Genf’ – so die offizielle Funktion und der Titel dieses Autors – stellt ein philologisch und kulturgeschichtlich mustergültiges Werk dar, das die verschiedensten Aspekte der religiösen Kultur und Literatur im Frankreich des 16. und 17. Jahrhunderts analysiert und darstellt. Mit diesem herausragenden Werk hat sich Frau Mellinghoff im Übrigen 2000 an ihrer alten alma mater, der Sorbonne, habilitiert und wurde damit in die offizielle Liste der französischen Hochschullehrer aufgenommen. Mit diesem Werk (François de Sales (1567-1622), un homme de lettres spirituelles. Culture –Tradition – Epistolarité, 1999) wie mit der in Zusammenarbeit mit ihrem Mann Frieder Mellinghoff erstellten Bibliographie zu François de Sales (2007) hat sie zwei Standardwerke geschaffen, die ihr in der einschlägigen Forschung und weit darüber hinaus den Ruf einer Spezialistin von hohem Rang und den Zugang zu vielen internationalen Kongressen und wissenschaftlichen Vereinigungen gesichert haben. Aus alledem ist eine weitere große Zahl von Veröffentlichung hervorgegangen, die auf ihrer Homepage verzeichnet sind.

Schließlich sei hervorgehoben, dass Frau Mellinghoff-Bourgerie es in ihrem privaten wie in ihrem wissenschaftlichen Leben stets verstanden hat, mit der französischen und der deutschen Kultur und Sprache zusammenzuleben, sie wechselseitig zu vermitteln und diesen Austausch für beide Seiten fruchtbar zu machen. So war es nur logisch, dass sie schon 1987 zu den Gründungsmitgliedern und langjährigen Förderern der Deutsch-französischen Gesellschaft ~ Bochum-Ruhr / Association franco-allemande ~ Bochum-Ruhr gehörte.

Prof. Dr. Manfred Tietz


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