Das obige Zitat aus dem Themenheft poethik polyglott der von der sog. RUB-Gruppe des Romanischen Seminars mitherausgegebenen Zeitschrift Dichtungsring (1981-2015) war der Neuen Zürcher Zeitung vom 21.8.1992 einen Feuilleton-Titel wert. Die RUB-Gruppe bestand aus dem unterzeichneten Dozenten sowie studentischen Mitarbeitern und weiteren Studenten der Romanistik am und um den damals so bezeichneten Lehrstuhl "Außereuopäische Romania". Ineins mit der Erforschung der Beziehungen zwischen der europäischen und der lateinamerikanischen Romania widmete sich der Lehrstuhl dem Entwurf einer kreativen Literaturwissenschaft. Dies geschah mithilfe einer erweiterten Hermeneutik und einer — von historischen Altlasten befreiten — "Lebenswissenschaft". Ihre Keimzelle bestand in der programmatischen RUB-Antrittsvorlesung Grundzüge einer "generativen" Hermeneutik. lesenschreibenlebenschreienlesenschreiben (1979); sie wurde weiter entfaltet in dem Buch Literaturlabor. La Muse au point. Für eine Neue Philologie (1986). Verknüpfungen bestehen zu dem mitentworfenen "lebenswissenschaftlichen" UNESCO-EOLSS-Projekt Comparative Literature (2008-2011) sowie zu Ottmar Ettes Konzept einer literarischen Lebenswissenschaft (2004). Ein weiterer Bezug bestand bzw. ergab sich zur Angewandten Literaturwissenschaft, einschließlich Literaturdidaktik, im Bereich der Bochumer und Siegener Germanistik und Komparatistik, zur Bochumer Sprachlehrforschung, sowie zum später (2003) am Romanischen Seminar der RUB geschaffenen Lehrstuhl für "Didaktik der Romanischen Literaturen".
Die kreative, ludisch-kritische Literaturwissenschaft steht nicht in Opposition, sondern in einem komplementären Verhältnis zur kognitiven und kontemplativen Literaturwissenschaft. Sie ist rückgekoppelt an eine werkorientierte Hermeneutik, und sie ergänzt die Rezeptionsästhetik durch das Prinzip leserliterarischer Produktion. Dies geschieht nicht zuletzt in Fortführung klassischer Muster wie das der antiken Rhetorik und das des Renaissance-Dichters und Philologen Angelo Poliziano, fortlebend, ludico-lucido, im postmodernen Konzept des Schriftstellerwissenschaftlers (Riha/Gendolla 1991), philolog und logophil. Es galt nun, etwas von diesem Schriftstellerwissenschaftler in die Fremdsprachendidaktik im schulischen und universitären Bereich zu übertragen.
Die anfängliche Reaktion der romanistischen Kollegen war wohlwollend skeptisch: "Dichten, erst recht fremdsprachig dichten, kann man vielleicht mit Bonner, aber nicht mit Bochumer Studenten". Eine von vorneherein verloren geglaubte Sache, una causa al parecer perdida. In der Folge wurde diese Skepsis dementiert durch eine Reihe nachhaltiger kollektiver RUB-Projekte wie der Dichtungsring und das Literaturlabor, auch das Poesie-Projekt Las cosas al parecer perdidas — Die verloren geglaubten Sachen, im zwischensprachlichen Dialog mit dem chilenischen Surrealisten Enrique Gómez-Correa und in Anbindung an die Ausstellung Lateinamerika und der Surrealismus im Museum Bochum (1993), unter Mitarbeit des Chilenen Pedro Crovetto (Dichtungsring 26, 1996).
Die kreative Literaturwissenschaft, die sich auch anderweitig, ja weltweit, verbreitet hat, vorbereitet durch das creative writing, wurde Teil des vielfältigen Gefüges verschiedener methodischer Richtungen am Romanischen Seminar der RUB, unter Wahrung der allgemein romanistischen Signatur desselben, teilweise mit Ausweitung in die Vergleichende und Allgemeine Literaturwissenschaft, in die Sprach- und Literaturdidaktik sowie in die Medien- und Kulturwissenschaft. Insgesamt gesehen gelang dem Romanischen Seminar in den 50 Jahren seines Bestehens eine Art Triangulatur des didaktischen Zirkels, nämlich das dreifache Bildungsziel einer Breitenbildung, einer Spitzenbildung und einer "spitzen" Breitenbildung zu verwirklichen. Dies ist das Ergebnis einer erfreulichen Synergie zwischen Forschenden, Lehrenden und Lernenden mit unterschiedlichen methodologischen Konzepten, einschließlich der Dekonstruktion derselben: methodos: el camino se hace al andar.
Die studentische Kreativität im Bereich der Romanischen Philologie äußerte sich — ineins mit Seminar-, Staats-, Magister- und Doktorarbeiten — in der individuellen und kollektiven Produktion para/literarischer Texte lyrischer, narrativer, dramatischer, parodistischer, satirischer, mischmedialer, translatorischer und essayistischer Art in den verschiedenen romanischen Sprachen, auch mischsprachig, gelegentlich im Verbund mit den klassischen Sprachen der Antike sowie modernen germanischen Sprachen. Ihren lebensliterarischen Ort hatten sie in den erwähnten Projekten und Publikationen der Zeitschrift Dichtungsring und des Literaturlabors, darüber hinaus in poetischen Performances und nicht zuletzt in zahlreichen Theaterprojekten. In Seminaren und Vorlesungen zur kreativen Literaturwissenschaft, bei steter Vermittlung der philologischen Analyse mit der eigenen Kreation, wurden die Grundlagen für die fremdsprachige Textproduktion erarbeitet, verbanden sich mit den vorhandenen Anlagen der Studierenden. Sichtbar gemacht wurde die studentische Kreativität insbesondere bei Theater-Exkursionen in die Romania und bei Romanisten- und Universitätsfesten, in deren Rahmen viele gemeinsam erarbeitete Projekte zur Aufführung gelangten, in Bibliotheken, in Hörsälen, im Musischen Zentrum und im Foyer des Audimax der RUB. Zeitweise verlagerten sich die Darbietungen der RUB-Gruppe auf die Bühnen der Bonner Rheinterrassen, der Poppelsdorfer Allee und der Godesberger Redoute, in Timm Ulrichs konkretistischen UMRAUM in Essen, in die Redaktionsräume des Nouvel Observateur und in einen Konferenzsaal der UNESCO in Paris, nicht zu vergessen die Voitures Corail, die Großraumwagen der SNCF. Auf der Bühne der Ruhr-Triennale, genauer gesagt der Bochumer Jahrhunderthalle, reichte es dagegen nur, nach einem entsprechenden Casting des Intendanten Gérard Mortier, zum Einführungsvortrag für die Aufführung von Racines Phèdre, realisiert vom Pariser Théâtre de l'Europe unter der Leitung von Patrice Chéreau (2003).
Zu den romanistischen Theaterprojekten der RUB-Gruppe zählten Stücke wie die zur 15. Jahresfeier der RUB aufgeführte Satire Les précieux ridicules (1980), ein diskurskritisches Gender- und Gelehrtenstück; das globoglotte Seminarrenschiff oder Die Cargonauten (2000), eine Kritik des Weltverkehrs in einer Verkehrten Welt, dargeboten auf dem Campusfest der RUB sowie auf der obligaten Romanistenfête; die absurde abend- und hörsaalzehnfüllende Anti-anti-pièce des Französisch-Studenten Wolfgang Sprenger, Une leçon d'allemand ou La vie privée (1982); und schließlich das burleske Hausbesetzerstück Maison à occuper (1980, 1981, 1986), im Anschluß an Georges Perecs Roman La vie mode d'emploi, mit einem doppelten deutsch-französischen Sitz im Leben, sprich: einem sozialen Brennpunkt.
Die "philologistische" Gestaltung der "angewandten Literaturwissenschaft" erfolgte mit tatkräftiger Unterstützung seitens der einfallsreichen und sprachkundigen Sekretärinnen Inge Elting und Sabine Cremer-Duda, darüber hinaus des Geschäftsführenden Assistenten Jürgen Niemeyer, der — neben dem Auf- und Ausbau deutsch-französischer Studiengänge und Austauschprogramme sowie seiner Tätigkeit als Ausbildungsleiter im Bereich der "langues appliquées" — maßgeblich an der Förderung der fremdsprachigen Poesie- und Theaterprojekte des Romanischen Seminars der RUB beteiligt war. Diese gediehen also, gewissermaßen, unter "akademischen Palmen" (Jürgen Niemeyer wurde für seine Verdienste in der deutsch-französischen Bildungsarbeit mit verschiedenen Graden des französischen Ordens der Palmes académiques ausgezeichnet.).
Der Bochumer und Bonner Dichtungsring verstand sich, seinem Namen entsprechend, als ein schrilles Schreiben am Rand des Schweigens, eine mehrsprachige Annäherung an die Stille, an der Schnittstelle des Schreis, eine Annäherung an das Leben, den Asymptod. Der kollektive cadavre exquis war eine der ersten — aus dem Surrealismus abgeleiteten — Formen studentischer Kurzkunst, RUB-B/r/eton, unter Mitwirkung des Zufalls, während der von dem Studenten Ingo Kottmayr und dem Dozenten Queneauth entworfene Multiple Joyce zu einer zentralen Spielform mischsprachiger Dichtung wurde. Ludolabilibidolingual. Ein weiterer Grundsatz war das Korrespondenz-Prinzip: die Bochumer wie die Bonner Dichtungsringer/innen betätigten sich als poetische Fremdsprachen-Korrespondenten, übersetzend, umschreibend, weiterschreibend, widersprechend, im Gespräch miteinander, mit den Werken der Weltliteratur, im Zwiegespräch der Sprachen, der Bilder und der Welten.
Einige herausragende Figuren der studentischen RUB-Gruppe des Dichtungsrings und des damit vernetzten Literaturlabors seien namentlich erwähnt: Ingo Kottmayr, Uwe Gemba, Barbara Wohlgemuth, Giovanni Catania, Dieter Pougin, Attrice Beatrice Creatrice, Wolfgang Sprenger, Clemens Schmale, Volker Redder, Regine Schüler, Susanne Peter-Stierle, Frank Henseleit, Chris Wahl, Nuno dos Santos, Roland Ißler, Cynthia Carggiolis, Jasmin Wrobel. Sie befinden sich in der Gesellschaft namhafter Autorinnen und Autoren des Dichtungsring, die den bald 50 Ausgaben der Zeitschrift, deren Schwerpunkt sich seit den 90er Jahren nach Bonn verlagert hat, entnommen werden können. Eine ausführliche Liste mit den aktiven studentischen Teilnehmern des Projekts einer kreativen Literaturwissenschaft auf dem Stand von 1986 findet sich in Literaturlabor.
Der programmatische Band poethik polyglott (1991) wurde zum Auslöser einer Welle sich glokal ausbreitender Dichtungsringe und einer weltweiten Vernetzung auf universitärer Ebene. Das Programm einer nicht nur leserliterarisch erweiterten, sondern auch kognitiv erforschten mehr- und mischsprachigen Weltliteratur, unter Einbeziehung von Humboldt-Preisträgern und Postgraduierten-Kollegs in drei Kontinenten, wurde ausgebaut in mehreren Forschungskomitees des Internationalen Komparatistenverbandes AILC/ICLA, speziell in der Forschergruppe "Mapping Multilingualism in World Literature" (2007-2013). Deren Erträge erscheinen gerade in der neu gegründeten Reihe poethik polyglott des akademischen LIT-Verlags in mehreren Bänden und Sprachen, unter Mitwirkung — auch federführend — von Romanisten und Komparatisten der RUB.
Der Dichtungsring schließt sich um die vorliegenden Zeilen wie eine "Erfüllungsfigur". In der Vorrede zu Heft 1 des Dichtungsring (1981) steht der antiphrastische Satz "Korrespondierendes Mitglied ist der Papst." Der Satz sollte sich als prophetisch erweisen. Die von Lieselotte Steinbrügge und Roland Ißler besorgte Festschrift Queneauthudes zur Emeritierung des Unterzeichneten (2006) schließt nämlich mit einer päpstlichen Botschaft an den Emeritus und an das Romanische Seminar der RUB, gesandt von Benedikt XVI, bei dem der Romanist, Sportstudent und Dichtungsringer einst Fundamentaltheologie studierte. Das Prinzip Correspondances durchwaltet — zumindest dichterisch — die Welt.
Knauth/Queneauth, Aschermittwoch 2015