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Nachruf auf Prof. Dr. Karl Maurer (15.4.1926 – 30.8.2025)

Karl Maurer

Am 15. April 1926 wurde Karl Maurer als Sohn des Freiburger germanistischen Mediävisten und Philologen Friedrich Maurer geboren. Nach seiner Rückkehr aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft studierte er an den Universitäten Freiburg i.Br., Basel, Lille, Paris und Pisa Klassische, Romanische, Deutsche und Englische Philologie sowie Vergleichende Literaturwissenschaft. Die Promotion bei Hugo Friedrich (1951) sowie die Habilitation in Bonn bei Harri Meier (1955) führten unmittelbar zu einer Assistententätigkeit an der Universität Köln bei Fritz Schalk sowie zu einer Mitarbeit an der Neubearbeitung des Romanischen Etymologischen Wörterbuchs von Wilhelm Meyer-Lübke bei Harri Meier in Bonn. Es folgten Rufe an die Universitäten Kiel und Saarbrücken, die Ernennung zum Ordinarius in Bonn, ein Ruf nach Hamburg und dann, 1965/66, der Ruf auf den disziplinenübergreifenden romanistischen Lehrstuhl an der neugegründete Ruhr-Universität Bochum.

Hier hat Prof. Maurer im Wortsinn grundlegend gewirkt. Als Dekan 1968/69, als Geschäftsführender Direktor, in Kommissionen und als langjähriger Stellvertretender Leiter des Staatlichen Prüfungsamtes konnte er seine schon an vielfältigen Orten erworbenen akademischen Erfahrungen, aber auch sein Geschick im Aushandeln praktikabler Lösungen in konfliktreichen Lagen nutzen, um der jungen Bochumer Romanistik im Verbund mit den benachbarten Philologien ein zugleich stabiles und zukunftsoffenes Haus zu errichten.
Entscheidend dafür war in erster Linie, dass Karl Maurer ein äußerst gewissenhafter, dabei höchst neugieriger, vielseitig interessierter, für methodische und historische Fragen gleichermaßen offener, vor allem aber ein passionierter Philologe war. Schon die akademischen Qualifikationsschriften, die Dissertation zur späten Lyrik Paul Valerys (1954) sowie die Habilitationsschrift Giacomo Leopardis Canti und die Auflösung der lyrischen Genera (1957), zeigen sowohl das nie erlahmende Interesse des Autors an den formalen und intertextuellen Einbindungen hochkomplexer Lyrik in übergreifende Bedingungsgefüge als auch den starken Willen, morphologische Organisationsprinzipien in der Reibung mit geschichtlichen Transformationen und Umbrüchen zu verstehen. Aus diesem Interessenskern heraus, der schon früh auch Dante mit etlichen bahnbrechenden Einzelstudien einschloss und nicht selten das Widerständige, Erratische und Abrupte des Geschichtlichen fokussierte, entwickelten sich zum Teil naheliegende, zum Teil aber auch überraschende Themen, denen Karl Maurer mit dem gleichen Elan nachging: das Erhabene, der literarische Schrecken, Formen des Lesens, der Fiktionsbegriff, das Dichten in fremden Sprachen, um nur einige dieser Sujets anzudeuten. Bei den späteren Büchern wären vor allem Goethe und die romanische Welt (1997) und Abhängige Texte (2019) hervorzuheben. Beide Schriften dokumentieren den im Laufe des reichen wissenschaftlichen Lebens sich weiter schärfenden Blick für komparatistische und allgemeine literaturwissenschaftliche Fragestellungen. Im erstgenannten Buch sind es vor allem die Studien zur Tragödie und zum Wandel des Tragischen im Spannungsgefüge zwischen den griechischen und römischen Texten, der französischen Klassik, Shakespeare und Goethe, die in der Forschung große Resonanz gefunden und unsere Sicht auf die tragische Verquickung des Liebesaffekts mit der politischen Sphäre von Machtkollisionen verändert haben. Im Buch Abhängige Texte. Übersetzungen, Plagiate, Konjekturen und Falsifikate wird die Faszination deutlich, aus der heraus Karl Maurer gewissermaßen das textuelle Eigenleben verfolgt, soweit es sich in Supplementen auf unterschiedlichste Art entwickelt. 
In den Falsifikaten (1942-2012), die fast den gesamten zweiten Teil des Buchs Abhängige Texte umfassen, stellt man fest, dass Karl Maurer sich nicht nur als Literaturwissenschaftler, sondern – lange Zeit klandestin – auch als Literat Lorbeeren verdient hat, indem er die von ihm analysierten literarischen Texte mit oft kongenialen Supplementen fortschrieb. Etwas provokativ, gleichwohl untertreibend, bezeichnet er seine eigenen „abhängigen Texte“ als „Falsifikate“, weil er sie vor allem als ‚Fälschungen‘ des Originals versteht, obwohl sie als schöpferische Nachahmungen oft genug eine nur geringe Abhängigkeit von den Ausgangstexten aufweisen und selber originell, wenn auch epigonal sind, wie sie der Autor selbstkritisch im Vorwort bezeichnet. Die rekreative Performanz von Karl Maurers Dichtung, die im kontinuierlichen Dialog mit seiner Lehre und Forschung entstand, zeigt sich hier in der Vielfalt der Stile, Metren, Motive und Textsorten sowie der Sprachen, Kulturen und Epochen von der Antike bis zur Gegenwart. 
Das Kapitel der Falsifikate endet mit einem erstaunlichen Epitaph. Es ist die eigene Grabschrift des Philologen und Dichters, der seinem dort eingravierten Namen und Geburtsjahr eine Leerstelle folgen lässt: „(„Karl Maurer, 1926–     “)“. Das prosasprachige Gedicht – ein Falsifikat vor allem des Ultimo canto di Saffo des Dichterphilologen Giacomo Leopardi – besteht aus lauter semantischen Leerstellen. Es ist eine betont eintönige Vision des soeben erreichten Jenseits, in dem sämtliche diesseitigen und jenseitigen Erwartungen des Dichters enttäuscht werden, wo keiner und keine, niemand und nichts auf ihn warten, nicht einmal der „Tartaro“ des Leopardischen Gesangs. Von der inneren Form her kann man Karl Maurers Grabschrift als ein autofiktionales Rollengedicht verstehen, ein Falsifikat, das an der Grenze zum Authentischen liegt. 
Es ist kein Zufall, dass sich Karl Maurer nicht nur stark kanonisierten und geradezu epochal prägenden Dichtern gewidmet hat (Dante, Leopardi, Goethe, samt ihren antiken Ahnen, aber auch Hölderlin), sondern auch nicht ganz so zentral verortbaren, ‚schwierigen‘ Autoren bis in die späte Moderne hinein (Diderot, Góngora, Peter Weiss). Diffizile Entstehungsgeschichten, brüchig gewordene Traditionslinien, geschichtliche Eruptionen und Risse in philologisch-poetologischen Filiationen, entstellende und zugleich produktive Rezeptionen und Übertragungen sowie Übersetzungen – das alles sind wichtige Impulse, die den großen und unermüdlichen Gelehrten bis zu seinem Tode in seinem 100. Lebensjahr zu immer neuen Erkundungen angetrieben haben. Das Feld der Forschungen gestaltet sich dabei von Anfang an unermesslich weit, geradezu universal. Zahlreiche sprachgeschichtliche und linguistische Studien, der Einbezug der rumänischen Literatur (vor allem Eminescus) in das ansonsten durch die französische, italienische und spanische Literatur geprägte Arbeitsfeld, nicht zuletzt aber auch ergiebige Ausflüge in das Japanische und das Russische, wo es Karl Maurer besonders um Entstehung und Nachwirkungen des Russischen Formalismus ging, zeigen das aufs Deutlichste. 
Für den Philologen in dem Literaturwissenschaftler ist es aber vielleicht bezeichnend, dass er die letzten Lebensjahre intensiv einem Editionsprojekt gewidmet hat. Zusammen mit der früh verstorbenen Kollegin Ilse Nolting-Hauff, die von Bochum nach München gewechselt war, hatte er eine textkritische Edition des Sueño de la muerte Quevedos konzipiert, die  nach vielen arbeitsreichen Jahren unter seiner und Kurt Ochs‘ Herausgeberschaft publiziert vorliegt (Tübingen 2013 und New York 2025). Sie steht stellvertretend für ein fundamental philologisches Text- und Leseverständnis, das in dieser Edition an einem für die einschlägige Forschung als besonders schwierig geltenden Fall mit höchster Präzision ausbuchstabiert wird. Dem dankbaren Leser wird hier ein gesicherter Weg gewiesen durch ein Labyrinth sich überlagernder Einschübe und Überschreibungen. Entsprechend werden „das fremde Wort“ – so der Titel der 1988 zu seinem 60. Geburtstag von Joachim Schulze und Ilse Nolting-Hauff vorgelegten Festschrift – und das eigene Wort mit erhellenden Verständniskonsequenzen akribisch aufgearbeitet, was dem Leser einen sehr viel leichteren und klareren Zugang zu Sinn und Editionsgeschichte ermöglicht.
Karl Maurer reichhaltiges wie vielseitiges Forschungsspektrum, das sich auch in vielen ausländischen Lehr- und Arbeitsaufenthalten niederschlug (so z.B. an den Universitäten von Tokio, Stanford und St. Petersburg) und es dem Forscher ermöglichte, sich weit zu vernetzen, war zugleich die Basis, auf der er in wissensorganisatorischen Dingen an seiner Universität mit internationaler Strahlkraft wirken konnte. Geradezu emblematisch mag dafür die Gründung der Zeitschrift Poetica stehen. Diese hat er 1967 zusammen mit seinen FakultätskollegInnen Hellmut Flashar, Ingrid Strohschneider-Kohrs und Ulrich Suerbaum als interdisziplinäres philologisches Organ ins Leben gerufen. Es sollte das neu erwachte Interesse aller Philologien an methodischen Fragen im offenen Gespräch zwischen den Disziplinen, unter Einbeziehung linguistischer Ansätze, nutzen und zugleich eine Plattform und Triebfeder für die Grundlegung systematischen literaturwissenschaftlichen Wissens bilden. Dieses Konzept, das sich von vornherein an den Fragestellungen des Russischen Formalismus orientierte, ist seitdem ebenso wenig wie die Zeitschrift selbst als international anerkannte Institution aus der wissenschaftlichen Praxis wegzudenken. Es hat auch, vor allem in den Anfangsjahren, entscheidend dazu beigetragen, dass sich die Bochumer Philologien als stark dialogisch und offen für die Kreuzung von historischen und systematischen Fragestellungen definierten und aus dieser Gemeinsamkeit zahlreiche interdisziplinäre Projekte auf den Weg brachten.
Mit der dafür notwendigen Initiativkraft hat Karl Maurer prägend und wegweisend für sein Seminar und die gesamte Fakultät für Philologie gewirkt. Seine Entschiedenheit und seine Beharrlichkeit in sachlichen, organisatorischen und strukturellen Fragen, gelegentlich auch in Personalfragen, stand nie in Zweifel. Der Grad seiner Vorbereitung auf entscheidende Gremiensitzungen war legendär, ebenso seine Genauigkeit bei der Durchsicht und der Redaktion von Texten, seien sie wissenschaftlicher oder bürokratischer Art. Seine Abneigung gegen jegliches Mitläufertum und seine unbedingte Klarheit in wissenschaftlichen und verwaltungstechnischen Dingen haben ebenso wie seine nie erlahmende Energie immer wieder zu fruchtbaren Debatten, gelegentlich zu unvermeidlichen Auseinandersetzungen geführt. Entscheidend und immer wieder überraschend war dabei aber stets, mit welch großer Offenheit Karl Maurer anderen Positionen begegnete, sie vorbehaltlos respektierte und, wenn möglich, in konstruktive Problemlösungen einbinden konnte. 
In dieser so energisch wie vielgestaltig betriebenen Wissenschaftspraxis, die auch und gerade das Kontradiktorische sowie das Widerständige anging und mit Beharrlichkeit zu klären suchte, machte sich stets ein ausgeprägter Sinn für das Ganze, die Rundung, das Abschließen und das Vollenden eines Prozesses bemerkbar. Werk und Text, Text und Leben hat Karl Maurer immer zusammengedacht und im scheinbar Zufälligen das Verbindende gesucht – und gefunden. Der philologische Mut zur Freilegung des Sinns im scheinbar Kontingenten erhielt so in einer Art grundierendem Entelechie-Denken einen starken Widerpart. Versteckt und zugleich dem aufmerksamen Leser aufgedeckt hat er dies womöglich in einem Aufsatztitel aus dem Jahr 1990 („Von der Schwierigkeit, das Werk doch noch zu Ende zu führen – Dante, Goethe, Balzac, Dürrenmatt“). So mag es denn als tröstlich gelten, dass er wenige Tage vor seinem Tod an einige Vertraute die freudige und für ihn wahrhaft beglückende Nachricht senden konnte, dass seit einigen Wochen die von ihm initiierte revidierte spanische Fassung der kritischen Edition von Quevedos Sueño de la muerte, um deren rechtzeitiges Erscheinen er gebangt hatte, nunmehr gedruckt vorliegt. Zwei Tage später ist er in seinem Haus in Bochum-Weitmar friedlich entschlafen. Das Romanische Seminar hat einen großartigen Gelehrten und die prägendste Gründerpersönlichkeit seiner jungen Geschichte verloren. Mit seiner Witwe und seinen Söhnen trauern wir um ihn.

Rudolf Behrens, Alfons Knauth